Rezension in den Deutsch-Rumänischen Heften
Jahrgang XXVI Heft 1, Sommer 2023, S. 36

Zufällige Begegnungen

Mit Esprit, Witz und Humor führt uns die Ich-Erzählerin durch verschiedene Länder, Städte, Dörfer - und durch verschiedene Zeiten. 1945, das Geburtsjahr der Autorin, markiert das Ende eines düsteren Kapitels der Weltgeschichte, und ist gleichzeitig der Auftakt für eine Grenzziehung, die unter dem Namen „Eiserner Vorhang“ viel Leid und Not über die Menschen bringt. Im Nachkriegsrumänien zieht mit Bespitzelungen, Schauprozessen, Verhaftungen, Deportationen, Enteignungen die Herrschaft von Terror und Angst ein. Die Menschen sind der Willkür eines diktatorischen Regimes ausgeliefert. So gerät Clara, eine junge Studentin der Medizin, kurz vor ihrem Abschlussexamen in die Fänge eines gut aussehenden Spitzels. Als Tochter eines Pfarrers - von „ungesunder Herkunft“ - bedroht er sie mit der Tatsache, dass er als Geheimdienst-Mitarbeiter ihre Eltern jederzeit verhaften lassen kann, so sie sich nicht als gefügig erweist. Claras Verzweiflung erreicht ihren Höhepunkt, als sie feststellt, dass sie schwanger ist. Nach vielen Jahren trifft die Ich-Erzählerin zufällig deren Tochter.
Zufälle kommen in Astrid Bartels Geschichten oft vor. In einem Dorf unweit von Hermannstadt/Sibiu tritt ein Städter einem rasenden Stier auf der Dorfstraße entgegen, besänftigt das Tier und erntet durch diesen Zufall die Anerkennung der Dorfgemeinschaft.
Die Wassilko-Gasse in Cernowitz (ukr. Cernivci, rum. Cernauti) ist durch Paul Celan bekannt geworden, doch auch Coco kommt von dort. Die Ich-Erzählerin erinnert sich an den Nachbarn aus ihrer Studienzeit in Temeswar/Timisoara - ein zartbesaiteter Gesprächspartner und „kluger Kopfarbeiter“, noch dazu originell: „Ich werde dich Astriede nennen“, vom Lateinischen „astrum“ (Stern) abgeleitet. Bei Coco trinkt sie den besten Tee ihres Lebens: „Mit dem ersten Schluck schien sich der ganze Raum zu verwandeln“, Coco erzählt viel von Cernovitz. Doch weshalb er zu seinem 47. Geburtstag von keinen Verwandten Post bekommt, erfährt sie nicht. Coco bleibt ein seltener Stern an „Astriedes“ Firmament.
Strahlend muss man sich die Ich-Erzählerin vorstellen, wenn sie in einem Zuggespräch Schillers „Zaubersatz“ zitiert: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Im ICE grübelt ein junger Mann, wie er seiner Mutter sein Schauspielstudium nahelegen könnte. Der Satz der Mitreisenden wird ihm helfen. Eine Zufallsbegegnung, die dazu beiträgt, einen familiären Knoten zu lösen.
Um Familienschicksale geht es in vielen von Astrid Bartels Geschichten. Nach langer Zeit bekommt die Familie der Ich-Erzählerin die Ausreisegenehmigung in die Bundesrepublik - ein Wunsch geht in Erfüllung und trotzdem sitzt sie mit ihren Eltern im Zug und verspürt „eine diffuse Angst, die sich nicht in Worte fassen lässt.“ Doch dann kommt das „Grüß Gott und gute Weiterreise“ des Beamten an der ungarisch-österreichischen Grenze wie ein Befreiungsschlag: „Jetzt beginnt unser neues Leben! Wir sind frei!“
„Der rote Sarafan“ thematisiert die Deportation der Rumäniendeutschen in die Sowjetunion, „Zeit der Pfingstrosen“ die Periode der Enteignung nach 1945, wo die Villa der Großeltern der Ich-Erzählerin enteignet wird und sie erfahren, dass sie in einer Zeit leben, „in der wir aufpassen müssen, mit wem wir reden und was wir sagen.“
Einige Geschichten sind von Bartels Beruf als vereidigte Dolmetscherin für Rumänisch am Gericht, bei der Kripo und beim Landeskriminalamt beeinflusst. Beeindruckend ist die zufällige Begegnung mit Erich Mielke im Haftkrankenhaus: „Dieser kleine, auf mich harmlos wirkende alte Mann soll Erich Mielke sein? Dieser brutale, hinterhältige Stasi-Chef, dieser Mörder, dem es gelungen ist, einen totalen Überwachungsstaat aufzubauen, und der so viele Menschen auf dem Gewissen hat?“ Oder die Begegnung mit Gica, der weder seinen Geburtsort noch seinen Nachnamen dem Kripobeamten nennen kann, der aber stolz erzählt, dass er in einem „Koberwagen“ geboren ist: „Frau, ich verstehe nicht, was der Mann fragt. Diese Worte kenne ich nicht. Sinti? Roma? Ich bin ein Zigeuner, das sieht er ja.“
Aus einer ehemaligen k.u.k.-Region kommend, darf es auch an „Ischler“ nicht fehlen - so wird die Fahrt in die „weltberühmte Konditorei Zauner in Bad Ischl“ zur Abenteuerreise. Viele unerwartete Begegnungen kommen in Bartels Buch mit der vielversprechenden bunten Häuserzeile auf dem Titelblatt vor - die Lektüre lohnt sich!

Ingeborg Szöllösi